Der Prioritätsstreit zwischen Bier und Corning

Trotz der erfolgreichen Anwendung an 5 Patienten zwischen dem 16. August und dem 28. August 1898 hatte Bier zwar, wie er selbst sagte, bewiesen, daß man mit geringen Mengen von Cocain in den Intraspinalraum große Opera- tionen schmerzlos ausführen kann. Er zögerte jedoch wegen bestimmter Nebenwirkungen, weitere Versuche am Men- schen anzustellen. Im Gegensatz dazu wurde die Methode von anderen Chirurgen alsbald ohne Vorbehalte propagiert. Enthusiastische Berichte nach ersten Anwendungen zwischen dem 26. Oktober und dem 18. Dezember 1899 in Amerika veranlassten dortige Chirurgen, die Entdeckung der Spinalanästhesie für Amerika zu reklamieren. Sie begrün- deten das mit dem Hinweis, dass der Neurologe James Leonard Corning bereits zu einem früheren Zeitpunkt Cocain am Rückenmark angewendet hätte.

Dem ist entgegenzuhalten, daß Corning erstens nicht die Absicht hatte, eine örtliche Betäubung für einen operativen Eingriff vorzunehmen, sondern er erwartete vom Kokain einen therapeutischen Effekt auf bestimmte neurologische Erkrankungen. Zweitens injizierte Corning das Kokain nicht in den Spinalraum, sondern bestenfalls in den Epidural- raum, wenn nicht paravertebral. Seine Publikationen in den Jahren 1885 und 1888 lassen daran keinen Zweifel. Erstaunlicherweise gab es aber nicht nur in Amerika, sondern auch in Deutschland unterschiedliche Meinungen über die Priorität der Spinalanästhesie. Ausgelöst wurde der Streit ausgerechnet von August Hildebrandt (1868−1954), der die Spinalanästhesie im August 1898 in Kiel zusammen mit August Bier im Selbstversuch erprobt hatte. Bier prote- stierte dagegen mit Nachdruck. Im Schrifttum wurde Corning´s Anteil an der Entdeckung der Spinalanästhesie mehr- fach kritisch erörtert. Aufgrund allgemeiner Übereinstimmung kann man feststellen, dass nicht Corning, sondern zwei- felsfrei August Bier die Spinalanästhesie für die operative Medizin entdeckt hat.

Publikation

Der Titel der ersten Publikation von August Bier über die Spinalanästhesie. In: Deutsche Zeitschrift für Chirurgie 1899, Bd. 51,
S. 361 − 369

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